Weldaer Heimatblaetter


Herausgegeben vom Ortsheimatpfleger Bruno Hake

Erschienen in zwangloser Folge

Nr. 10                                                                          April 1995                                                       10. Jahrgang

Die Herausgabe dieses Heimatblattes hat sich verzögert, weil im Jahre 1994 die Ausstellung und das Buch „WELDA -ein Dorf zwischen Adel und Kirche“ erstellt werden mußten.  Die Ausstellung haben ca. 1000 Besucher gesehen. Von der Buchauflage ist noch ein kleiner Restbestand beim Hermann Hermes Verlag (Buchhandlung Werth in Warburg) vorhanden.

Wie im letzten Heimatblatt versprochen, wird nachstehend die Abschrift aus dem Buch „Mein Leben“ von Ferdinande v. Brackel fortgesetzt, zumal die Heimatdichterin vor nunmehr hundert Jahren, am 4. Januar 1905 in Paderborn verstarb.

Fortsetzung aus „MEIN LEBEN“ von Ferdinande Freiin von Brackel.

3. Die Geschwister

Ich war das vierte Kind meiner Eltern. Da mir  drei  Brüder  voraufgingen,  wurde  ich

-variatio delectat- als Mägdelein sehr freudig begrüßt. Meine liebe Großmama mütterlicherseits und die einzige Schwester meines Vaters wurden meine Patinnen und von beiden erhielt ich die Namen „Ferdinande Maria Theresia“, auch wohl von jeder eine Ader: von Großmama den lebensfrohen Sinn, von der Tante die Liebe zu den Büchern und vielleicht ein Stück-chen Willenskraft, die sie überreichlich besaß.

Es folgte nach mir eine Schwester, welche früh verstarb, und noch zwei Brüder.

Die erste Freude über mein Kommen dämpfte sich bald dadurch, daß ich entschieden nicht meinen Brüdern an gefälligem, ja schönem Äußeren gleichkam. Da meine beiden Großmütter wirkliche Schönheiten waren, meine Mutter mit ihrem blütenweißen Teint, dunklen Haar und klugen Augen doch mindestens eine sehr hübsche Erscheinung abgab und mein Vater auch im hohen Alter noch ein sehr schöner Mann war, hatte ich einiges Anrecht auf dieses Erbteil. Aber das Schicksal ist oft tückisch. Meine Brüder waren alle auffallend hübsche Buben, zum Teil auch später schöne Männer, vor allen mein ältester Bruder Georg, der leider später durch einen bösen Fall seine als Kind so schöne Gestalt verlor. Außer dem geringen äußeren Reiz wurde ich in den ersten Lebensjahren auch noch ein kränkliches Kind, das Jahre hindurch großer Schonung und Pflege bedurfte.

Als mein sehr schönes, gesundes Schwe-sterchen starb, glaubte der Arzt, ich hätte diesen anscheinend so vernünftigen Rückzug genommen, und gab meiner Mama den Trost: „daß ja trotz aller Pflege nie etwas aus mir geworden wäre.“

Meine Mama hat sich über den Verlust dieses Töchterchens nie ganz getröst, und sie umgab es mit aller Phantasie und Poesie, deren die Liebe nur fähig ist. Ihrer treuen Pflege aber verdanke ich die Gesundheit und Kraft, die, Gott Dank, jetzt noch bis in mein Alter hineinreicht.

Ich blieb sechs Jahre hindurch die jüngste der Familie und erinnere mich noch, daß mir das ein großer Kummer war. Meine zwei ältesten Brüder hießen die Großen. Mein dritter Bruder, nur ein Jahr älter, war naturgemäß mein Gespiele, und wir haben unsere ganze Kindheit und Jugend, unsere Studien und Spiele sowie Freud und Leid geteilt.

Mein ältester Bruder, der spätere Besitzer von Welda, war eine praktisch veranlagte Natur, ermangelte dabei aber nicht einer gewissen poetischen Gefühlsrichtung und einer Art Erzählertalent. Dem Studium an sich war er nicht hold, da es ihm bei sonst klarem Verstand an Gedächtnis mangelte; auch wollte er sich nur der Landwirtschaft widmen.

Mein zweiter Bruder Engelbert war ein phantastischer, unruhiger Kopf von mannigfaltigster Begabung. Sein Zeichen-talent war nicht unbedeutend; als Knabe lei-stete er schon sehr Hübsches darin und hat auch später besonders in der Ausführung graziöser Randzeichnungen manches Schöne geliefert, worin er seinem Gedan-kenreichtum Ausdruck gab. Er war Militär, nahm aber früh schon ein Anerbieten an, unter Pius IX. in ein päpstliches Fremden-regiment zu treten, da es ihn lockte, den schönen Süden kennen zu lernen. Nachdem er zehn Jahre dort, bald in Rom, bald in den Provinzen, gestanden, Major und Oberst-leutnant geworden war, kamen die traurigen Tage der Auflösung der päpstlichen Armee und des Kirchenstaates.

Er ist dann viel durch die Welt gefahren, ging zur Zeit der Mexikanischen Regent-schaft dorthin und hat dann nach der Ver-nichtung des Kaiserreichs ein wechselvolles Leben daselbst geführt.

Wissenschaftliche Interessen traten allmäh-lich immer mehr an sie Stelle der militär-ischen und künstlerischen. Mit Pinsel, Stift und Feder war er stets tätig. Heute Journa-list und morgen im Minenfach arbeitdend, um dann wieder in alte, historische Papiere sich zu vergraben, gehörte er den verschie-densten gelehrten Gesellschaften Mexikos an. Seine Gutherzigkeit ließ ihn immer sehr freundlich und liebevoll für sein Schwester-chen sein, deren Schaffen ihm immer Freude bereitete und für das er nah und fern stets des regste Interesse zeigte. Nach seiner Rückkehr in die Heimat lebte er in Kassel und starb dort am 22.November 1903.

Der dritte Bruder Hugo ging ern-sten, klaren und tüchtigen Sinnes den gebahnten Weg. Er war der Eltern Freude, da er ihnen selten oder nie Sorge bereitete. Er hatte jedenfalls die Portion Gründlich-keit seines vorhergehenden Bruders mitbe-kommen, was ihn an rascher Arbeit, wie sie unsere Zeit jetzt heischt, in etwa hinderte.

Bei dem großen Examen im Ver-waltungsfach erreichte er z.B. zwei Prädi-kate mit vorzüglich, eines mit recht gut und füllte auch später im Leben seine Stellungen stets tüchtig und von großen, edlen An-schauungen ausgehend aus. In Schlesien, in Westfalen, in der Eifel, in Holstein hat er im Verwaltungsfach vierzig Jahre gearbeitet und sich überall der Zufriedenheit der Behörden und besonders des Zutrauens und der Befriedigung seiner Kreiseingesessenen erfreut. Allen Strebens fern, hat er nicht die äußere Anerkennung gefunden, die er ver-dient hätte; doch hat ihn dies nie geküm-mert. Ihm galt die Sache stets mehr als der persönliche Erfolg.

Wir standen uns im Alter am näch-sten. Er nahm lange den Platz der beauté der Familie ein und war auch besonders als Jüngling mit dem frohen Ausdruck in den braunen Augen, dem dichten braunen Haar über der ernsten Stirn, der schlanken, bieg-samen Gestalt eine überaus hübsche Er-scheinung, der Mutter Stolz. Ich war stets gewohnt, an ihm herauf zu sehen, und wir haben manches Jahr in inniger geschwister-licher Vertraulichkeit verbracht. Seine Frau war schon in unserer Kindheit meine beste Freundin und nach ihrem leider zu frühen Tode habe ich versucht, ihren Kindern an mütterlicher Liebe zu ersetzen, was ein Herz eben geben kann.

Es waren wohl veranlagte hübsche Kinder, welche die Aufgabe, sich ihnen zu widmen, wohltuend und leicht machten – und diese Aufgabe hat mein Leben jahre-lang ausgefüllt.

Mein vierter Bruder Arnold, ein um sechs Jahre jüngeres Bürschchen, wurde von uns anderen lange als „der Kleine“ angesehen. Wir hatten ihn in der Wiege gesehen, das gab ein großes Übergewicht. Schon damals zeigte sein sehr wohl ausge-bildetes Näschen die Form, die sie noch heute hat, was seinen Paten veranlaßte, zu sagen: „Der Junge hat ja eine Generals-nase!“ eine Prophezeiung, die wahr gewor-den ist. Als Kinder fanden wir, daß die Mama ihn verwöhnte und uns Großen dem Kleinen gegenüber stets Unrecht gebe. Ich vermute, daß ich jetzt die Situation anders auffassen würde. Er war früh ein kluger, klardenkender kleiner Mensch, der seinen Lebensweg mit großer Sicherheit ging. Im Gegensatz zu seinen anderen Brüdern kam er früh von Haus; da er Militär werden wollte, wurde er einer Kadettenanstalt schon im elften Jahre anvertraut. Ich glaube, meiner Mutter wurde dies Opfer unendlich schwer. Da aber dem Knaben bei dem Leben auf dem Lande jeder militärische Eindruck fernblieb, mein Vater sich auch später nie damit befaßt hatte, hielt man es für besser, bei seiner ausgesprochenen Neigung dafür ihn diesen Weg einschlagen zu lassen. Der Knabe hat so ein gut Teil seiner Kinderzeit den häuslich warmen Familienhauch entbehrt, soviel wir auch taten, ihm in den Ferienzeiten die Heimat lieb zu machen. Stark und fest auf sich selbst beruhend ist er seinen Wege gegangen mit seltener Pflichttreue, immer die Aufgaben erfüllend, die ihm vorlagen. Trotzdem ihm das Leben im Kadettenhaus gewiß ganz fremd war, fand er sich, ohne jemals zu klagen, darein; niemals beunruhigte er seine Eltern auch nur durch eine Klage, sondern zeichnete sich durch Fleiß und Führung in jeder Beziehung aus. Mit 17 Jahren ging er schon aus der Selecta als Offizier hervor und ich sehe noch heute unser aller und auch seine strahlende Freude, als er zum erstenmal in Offiziersuniform vor uns stand.

Zwei Equipierungen hat er verwachsen , so viel ging er noch in die Höhe nachdem er schon die Epauletten trug.

Er kam als einziger katholischer Offizier in das 27. Regiment, und den schönsten Beweis seiner Charakter-festigkeit und Pflichttreue in so jungen Jahren gab er dadurch, daß er stets treu seinem Glauben und seinen kirchlichen Pflichten nachkam, auch immer geordnet in seinen finanziellen Verhältnissen war, ohne jemals seine Eltern auch nur mit dem leisesten Anspruch zu beunruhigen.

Er hat später in mancher heißen Schlacht gestanden und sich ehrlich die Lorbeeren erworben, hat auch viel an äußeren Ehren geerntet. Und wie er damals war, ist er noch heute: nie seinen Ruhm oder die Vornehmheit seiner Stellung in äußerem Tand suchend, sondern immer auf dem wahren Grund, echter Wahrheit, treuer Arbeit und hoher Auffassung fußend.

Mein fünfter Bruder war der Schmerzensreich der Familie. Sein ganzes Leben war eine Kette von Leiden, und doch hat sein Leben gerade vielleicht am meisten das meinige beeinflußt. Von Geburt an war unsägliche Nervosität sein Los; ob ein Fehler in der Organisation oder ein Schlag-anfall ihn gelähmt, blieb ungeklärt. Er wurde nie Herr seiner Glieder. Mit sechs Jahren konnte er noch nicht sitzen, mit zehn Jahren erst begann er zu gehen, und auch das blieb doch immer nur ein bei steter Bewegung der Glieder traurig anzusehendes Fortbewegen. Das an und für sich sehr hübsche Gesicht war schmerzlich verzogen, er hatte über keine seiner Bewegungen Gewalt, auch nicht über den Blick, auch nicht über die Zunge. Er hörte jedoch sehr fein, und sein Verständnis war ungemein rasch und klar, im Gegensatz zu seiner sonstigen Hülflosigkeit.

Erst jetzt verstehe ich, welch ein unsäglicher Kummer, welch eine Lebens-aufgabe er für meine armen Eltern war. Meine Mutter war selbst in jenen Jahren viel leidend, besonders auch vor der Geburt des Kleinen, und ihre Genesung erfolgte erst viele Jahre später; aber auch da blieb sie doch stets zart, so daß man immer Rücksicht auf ihr Befinden nehmen mußte. Meines Vaters rührende Pflege, seine Sorge für ihre Gesundheit, die ihm nichts zu mühsam und zu teuer sein ließ, haben wohl am meisten dazu beigetragen, ihr die Gesundheit wiederzugeben.

Dabei immer das arme, kränkliche Kind, was stets einer, oft mehrerer Personen Pflege in Anspruch nahm – und doch habe ich niemals meinen Vater klagen hören, immer nur sah ich ihn Frau und Kind mit zartester Rücksicht behandeln.

4. Jugendzeit.

Meine Kindheit, von meinem achten Jahre an, stand ganz unter dem Eindruck dieser Ereignisse. Immer Sorge um Mama, immer Sorge um das Brüderchen, das wir aber doch so liebten, daß ich weiß, wie grauenhaft es uns war, als ich eine Dame sagen hörte, wie gut es sein würde, wenn Gott das arme Kind zu sich nehme! Ich mochte die Frau seitdem gar nicht mehr leiden.

Was mich selbst angeht, war ich lange von meiner Mama als Sorgenkind angesehen worden. Ich glaube, in etwas übertriebener Weise; jedenfalls verdanke ich ihrer treuen Pflege, daß meine Gesundheit eine so treffliche wurde.

Ich hatte sehr spät laufen und sehr früh lesen gelernt, das hat man mir so oft erzählt, daß ich es für wahr halte. Ob ich lebhaft oder still gewesen, weiß ich nicht, ich meine, ich sei erst mit den Jahren heiter und lebhaft geworden. Meine erster Erinnerung ist mein Kindermädchen, das ich innig liebte und das in steter Sorge war, mich nicht dem Ostwind auszusetzen. Von ihr habe ich ein geflügeltes Wort, dessen ich mich heute noch mit Freude erinnere. Als ich einst bat, spazieren gehen zu dürfen, schützte sie wieder Ostwind vor. „Minchen,“ sagte ich kläglich und sah auf die Wiese, wo die Dorfjugend sich tummelte, „Minchen, alle anderen Kinder sind ja draußen.“ „Das ist auch ganz etwas anderes,“ sagte sie kurz, „das sind andere Kinder!“ Das Wort paßte mir nicht. „Minchen, wir sind alle von Erde,“ erwiderte ich mit dem Anflug sozialer Anschauungen, die meine spätere Zeit kennzeichneten. Aber Minchen gehörte einer anderen Zeit an und kannte den Unterschied der Menschen. „Ja, aus Erde, aber ihr seid aus gesiebter Gartenerde,“ gab sie, die Tochter eines Gärtners, sehr schlagfertig zurück, und heute noch freue ich mich dieser prachtvollen Unterscheidung. Es lag, ihr unbewußt, auch der ganze Hohn darin, den die Ursprünglichkeit einer gewissen Überkultur entgegensetzt. Der einzige wirkliche Unterschied unter den Menschen ist gewiß der, ob sie aus mehr oder weniger kultivierter Erde bestehen.

Da ich aus gesiebter Gartenerde war, mußte ich also den Tag und noch manchen anderen im Zimmer bleiben, den ich gern draußen zugebracht hätte, denn damals schloß die Gesundheitspflege gerade soviel die Luft ab, wie sie jetzt sie anwendet.

Was den Ostwind betraf, so habe ich mein gutes Minchen immer in Verdacht gehabt, daß sie überhaupt nicht wüßte, wo Osten war, und kurzweg jedes Lüftchen dafür hielt. Die Verzärtelung, die meine gute Mutter mir angedeihen ließ, war aber nichts weniger als Verwöhnung. Es war aber eine gute Schule der Selbstüberwindung und des strengen Gehorsams. Ohne Murren mußte ich auf vieles verzichten, was sonst der Kinder Freude ist, war an die strengste Diät gebunden, bekam auch keinen Ersatz dafür, und mußte es ruhig mit ansehen, wie Kuchen und allerhand gute Gerichte an mir vorübergingen, ohne daß ich davon erhielt. Es wäre mir aber nie eingefallen, nur die kleinste Bitte in der Hinsicht zu erheben.

Auch noch in späteren Jahren heischte Mama denselben strengen Gehorsam; so hielt sie es schädlich für mich, im Freien zu sitzen, und nun gar auf Gras oder Steinen, mochte es noch so warm sein, noch so trocken! Kam ich mit anderen Kindern zusammen und klagte vorher bei Mama, daß ich wieder verlacht werden würde, wenn ich nicht mittäte, dann sagte sie stets: „Bist du so schwach, daß du dich durch ein Lachen oder eine spöttische Bemerkung von dem, was du tun sollst, abbringen läßt? Was die Menschen darüber sagen, darauf kommt es gar nicht an, tu, was du sollst und damit Punktum!“

Ganz leicht war es nicht immer, aber eine gute Schulung war es; man verlernte es sich von anderer Urteil beeinflussen zu lassen. Auch in bezug auf ärztliche Anordnungen verlangte Mama den strengsten Gehorsam ohne Murren und Klagen. Kam aber eine Erkältung oder irgendeine Unpäßlichkeit, so gab es zumeist zuerst einige Schelte, daß man es durch Ungehorsam oder Leichtsinn herbeigeführt habe, und selten oder nie ein weichliches Beklagen.

Ich glaube, es waren nicht immer verdiente Schelte, sie behüteten aber vor unnützen Klagen, und so lange es ging, hielt man den Kopf oben und klagte nicht.

Da Mama in jenen Jahren so viel leidend war, außerdem durch meinen jüngsten Bruder sehr in Anspruch genommen war, war ich mir mehr selbst überlassen als die älteren Brüder es gewesen. Bis zum zehnten Jahre leiteten Gouvernanten und der Elementarlehrer des Dorfes, der allabendlich kam, unsere Stunden, und die Gouvernanten und den Lehrer hatte ich meist auf meiner Seite.

Zuerst hatten wir eine Gouvernante, die sehr durchgebildet und sehr streng war. Immer ermahnte sie, ruhig zu sein, war aber selbst das zappligste Wesen, das ich je gekannt. Sie hatte eine Rute angeschafft, und ich erinnere mich, daß ich dieselbe mit Wohlbehagen zerbrach, obgleich ich sie nie zu fühlen bekommen.

Die zweite war eine von französischer Abstammung, eine liebe Persönlichkeit, aber unendlich skrupulös, so daß sie nie wußte, was eigentlich des rechten zu tun. Ich glaube nicht, daß wir viel bei ihr gelernt haben, aber sie war sehr gut und fromm.

Mit meinem Bruder stand ich im besten Einvernehmen, nur wenn er mich neckte – und das geschah oft – wehrte ich mich meiner Haut und genierte mich auch nicht vor tätlicher Abwehr; gelegentlich war ich auch der angreifende Teil. Sonst sollen wir sehr artige Kinder gewesen sein. Ich spielte mit ihm Pferd und er mit mir Puppen. Daß er die Puppen immer besser anzukleiden vermochte als ich, verleidete es mir, und war mir ein großer Kummer. Er war geschickt mit den Händen, und ich ungeschickt, das war der Verdruß meiner Kindheit. Binden lernen, Linien ziehen, das waren mir schreckliche Aufgaben; meine Knoten gingen stets los, meine Linien waren immer schief und forderten den Hohn meines Bruders heraus. Ich keifte dann gegen ihn an oder brach in Tränen aus, mußte aber doch wieder Frieden machen, damit er mir die Linien zog. Er zeichnete schöne, gerade Häuser, ich gräßliche Hütten, die halb umfielen, und suchte sie damit zu rechtfertigen, daß das viel romantischer sei. Ich war sehr unordentlich, was mir viele Schelte zuzog, und es würde gewiß gut gewesen sein, wenn man es noch ernster genommen. Meiner Mutter Jungfer, eine vortreffliche Hausmeisterin und dabei äußerst treu in der Pflege unserer Mutter bei den vielfachen Krankheiten, prophezeite mir die schrecklichsten Lebensschicksale aus Anlaß meiner Unordnung und Ungeschicklichkeit. Sie behauptete stets, ich müsse dereinst für alles Maschinen haben: Strickmaschine, Nähmaschine – die sind nun wirklich gekommen, aber ich habe auch einen Teil praktischer Arbeit gelernt. Sie zog übrigens meine soviel hübscheren Brüder während unserer Kindheit so vor, daß ich erst später ihr recht von Herzen gut wurde.

Wir waren in bezug auf die Dienstboten streng gehalten, stets höflich und artig gegen sie zu sein. Als mein Bruder Engelbert einst der besagten Jungfer ein unartiges Wort zurief, strafte ihn mein Vater mit einer tüchtigen Tracht Schläge. Unartige, grobe Worte wurden überhaupt nicht erlaubt und nicht geduldet.

Unsere Leute waren alle sehr lange in unseren Diensten; es ist gewiß ein großer Segen auch für die Kinder, unter Menschen aufzuwachsen, die mit dem Haus und der Familie vertraut sind und deren Einfluß gar nicht zu unterschätzen ist. Das ewige Wechseln der Dienstboten bringt den Kindern solch geringe Meinung über den Menschen bei.

Mit den Dorfleuten und den Kindern dort kamen wir wenig in Berührung. Mama hatte die Ansicht, daß man in jenen Jahren mehr das Schlechte als das Gute annimmt; wir wurden aber auch nicht ängstlich davon ausgeschlossen, und mußten immer höflich und artig sein.

Bis zum vierzehnten Jahre nannten uns unsere Dienstboten beim Namen und du, nachher Sie und mit dem Titel.

Ich glaube, ich lernte nicht schwer. Schönschreiben aber wurde mir sehr sauer. „Deine Händchen sind zu schwach,“ mäkelte der Lehrer und hielt sie mir wohl fest. Was sind das wieder für Migänchen!“ – war eine häufige Bemerkung.[1] An unserer schlechten Schrift war er aber doch die Hauptschuld, da er trotz meines Vaters Tadel uns stets sehr klein und langsam schreiben ließ. Im Kopfrechnen war ich nicht übel, und das war dem Lehrer sein Lieblingsfach. Die deutsche Sprache nahmen wir nach Wursts Sprachlehre, und die war sehr langweilig. Ich sollte einst Sätzchen bilden und Hund läuft war die Aufgabe.

„Der Hund läuft schief“ – schrieb ich hin, denn ich hatte es beobachtet, wenn ich die Hunde unseren graden Gartenweg herunterlaufen sah. „Was für ein Unsinn!“ donnerte der Lehrer mich an. Aber ich gab meine Naturbeobachtung nicht so leicht auf und habe heute noch oft meinen Spaß daran.

Da, wie schon gesagt, Wursts Sprachlehre uns sehr langweilig war, wandten wir zuweilen ein treffliches Mittel an, diese Stunde zu umgehen. Unser Lehrer lag in stetem Hader mit der Gemeinde und der Regierung ob des in Wahrheit schrecklichen Schulhauses. Die Regierung war aber damals gerade so sparsam und unzugänglich für diese Zwecke, als sie später verschwenderisch dafür wurde. So blieb das alte Schulhaus stets dasselbe, trotzdem der Lehrer eine Eingabe nach der anderen an die Regierung machte. Sobald nun Wursts Sprachlehre auf der Tagesordnung stand, hatte mein Bruder oder ich eine heuchlerische Frage nach dem Erfolge seiner letzten Eingabe an die Regierung in Bereitschaft, oder wir fragten nach einem Acker, auf dessen Entwässerung er ebenfalls stets antrug.

Das Mittel hat nie fehlgeschlagen; wir bekamen dann stets die Geschichte all seiner Schulhausleiden zu hören – ob sie amüsanter war wie Wursts Sprachlehre, weiß ich kaum – aber plötzlich sprang der Lehrer dann auf, schnitt uns eilig noch ein paar Federn und eilte von dannen. Daß ich so wenig deutsche Grammatik kann, ist leider auch eine traurige Tatsache geblieben. In allen übrigen Elementarfächern aber war er ein sehr tüchtiger Lehrer.

5. Anfänge der Dichterbegabung.

In jenen Jahren regte sich bei mir denn auch der Dichtergeist, freilich mit sehr schwachen Flügelschlägen.

Ich mußte meiner Haltung wegen jeden Tag eine Stunde auf einer Streckleiter liegen. Während dieser Zeit erzählte ich meiner Gouvernante Geschichten und zwar so, als ob ich sie selbst erlebt hätte, aber mit dem unheimlichen Gefühl, daß es ja eigentlich gar nicht wahr sei. Da ich außer meinen Brüdern wenig oder keine Gespielen hatte, träumte ich dann von einer Menge kleiner Mädchen, mit denen ich gespielt haben wollte. Eine andere Art Darstellung versuchte ich später in Vers und Reim.

Einmal war ein Brand im Dorfe gewesen. Wir sollten einen Aufsatz darüber schreiben – ich verfaßte ihn als Gedicht und gab dieses dem Lehrer als Aufsatz ab. „Das ist kein Aufsatz; du solltest einen Aufsatz schreiben,“ sagte er sehr streng. Beschämt ließ ich den Kopf sinken und hatte Tränen in den Augen, was mir als Kind sehr leicht passierte. Als die Unterrichtsstunde zu Ende war, gab er mir mein Gedicht wieder: „Du kannst das deinen Eltern geben,“ sagte er kurz, und wir, meine Brüder und ich stürmten die Treppe hinab dem Wohnzimmer zu. Noch heute sehe ich die Situation vor mir: Mama lag, wie sie abends immer tat, auf dem Sofa, mit Zeitungen beschäftigt. Mein guter Vater und der Pastor saßen im eifrigen Schachspiel begriffen. Ein Körbchen mit Äpfeln, eine Flasche Wein auf dem Tisch, außerdem zwei silberne Leuchter mit brennenden Kerzen, denn wir benutzten damals noch keine Lampen.

Noch in der Schulschürze, mit brennend heißen Backen kam ich herein und gab Mama das Gedicht. Sie las es – sagte aber nichts als, ich sähe ja sehr heiß aus, und gab es meinem Vater. Der las es, sagte ebenfalls nichts und reichte es dem Herrn Pastor. Soviel ich mich erinnere, nickte dieser mir beifällig zu, sagte aber auch nichts. Ein niederschlagendes Gefühl beschlich mich. Ich bin hinaus gegangen, habe nicht gewußt, ob mein Gedicht gut oder schlecht war, habe mir dann aber den Kopf auch nicht darüber warm gemacht, sondern die ganze Geschichte bald vergessen.

Wohl zehn Jahre nachher erst hat mir meine gute Großmutter wieder davon gesprochen. Mama hatte ihr das Gedicht gesandt, Großmutter hatte es einem Herrn, der sich für Dichtungen interessierte, zu lesen gegeben, und der hatte gesagt, daß dem Kinde, das dies Gedicht verfaßt habe, zweifellos viel Talent innewohne.

Es muß also wohl nicht ganz schlecht gewesen sein.  Meinen Eltern aber danke ich es noch heute, daß sie so wenig Aufhebens davon machten. Wie manches junge Talent geht unter an der Bewunderung, die solch kindischen Versuchen gezollt werden! Und was noch schlimmer ist, wie viele bilden sich dann ein, Talent zu besitzen, und haben später nur grausame Enttäuschungen zu durchleben.

Ich ließ das Dichten dann jahrelang ganz sein. Erst im Backfischalter erwachte der Trieb wieder.

6. Pastor Hoischen.

Von meinem zehnten bis zum achtzehnten Jahre erhielt ich allen wissenschaftlichen Unterricht von dem Geistlichen unseres Dorfes. Der Pastor Johannes Hoischen war ein selten durchgebildeter Mann von vielen Interessen, der viel und vielseitig gelesen.[2] Trotzdem er sehr ernst, sehr wortkarg war, gewann er die Kinderherzen in hohem Grade, und er übte große Macht über uns aus. Unser waren vier, die den Unterricht dort begannen, zwei seiner Neffen, mein Bruder und ich. Der eine der Neffen verließ uns indessen schon bald; mit den anderen zwei Kindern teilte ich wohl zwei Jahre den Unterricht. Dann besuchten sie das Gymnasium und ich blieb allein zurück.

O, wie viel liebe und inhaltreiche Stunden habe ich in dem weißgekälkten einfachen kleinen Zimmerlein verlebt. Wie war es jeder Verschönerung, jedes Luxus bar! Ein kleines äußerst hartes Sofa, ein Sessel mit Rohrgeflecht, drei Stühle, ein kleiner eiserner Ofen, ein Bureau für die kirchlichen Papiere, an den Wänden ein paar unsäglich anspruchlose Bilder und ein ganzer Reichtum schöner großer Landkarten. Durch das Fenster schaute ein alter Apfelbaum herein  und auf dem Fensterbrett hatte ein Greisenkaktus seinen Platz, oft auch eine ganze Reihe schöner Kakteen oder Nelken, denn der hochwürdige Herr war ein großer Blumenfreund und Botaniker, der an besonderen Exemplaren seine größte Freude hatte. Ich hätte viel von Naturkunde lernen können, wenn ich Sinn dafür gehabt hätte, denn im Garten und auf Spaziergängen machte er uns stets auf alle Pflanzen und Tiere aufmerksam.

Ich muß noch eines kleinen offenen Bücherbrettchens an der Wand erwähnen, worauf die deutschen Klassiker ihren Platz hatten, dies Brettchen war für mich ein Gegenstand großer Versuchungen.

Allmorgendlich nach der Kirche rückten wir Schüler hier ein. In den ersten Jahren war es meinem Bruder und mir ein besonderer Sport, den kurzen, aber freilich sehr schmutzigen Weg auf Stelzen zurückzulegen; später schritt ich fein säuberlich zu Fuß hin.

Der Pastor, der früher Rektor an einer Schule gewesen, war der wilden Buben wohl gewohnt und man hatte uns von seiner Strenge ein wahres Schreckensbild entworfen. Wir fanden hingegen einen sehr milden Lehrer, und die Buben behaupteten, er ließe gegen mich eine große Nachsicht walten. Als meine Mutter einmal den einen Neffen des Pastors fragte, wie es mit mir in den Stunden ginge, äußerte der mit Nachdruck: „Ferdinande hat ein Leben wie eine Prinzeß, sie sitzt auf dem Sofa und guckt in Onkels Atlas.“

Ich glaube übrigens, daß ich im Lernen leidlich brav war, denn ich hatte ein gut Teil Ehrgeiz, nicht gegen die Buben zurückzustehen. Schon beim Elementarlehrer waren mir die Korrektur-Augenblicke immer sehr schmerzlich, und bei dritten oder vierten roten Strich gingen mir zumeist die Augen über.

Die Geographie der südamerikanischen  Staaten ist mir heute noch sehr gegenwärtig, weil ich seinerzeit meine beiden Kameraden darin übertreffen wollte und auch richtig das dafür ausgesetzte Bildchen eroberte.

Währenddem die Knaben Latein und Griechisch lernten, konnte ich nach Hause gehen  oder hatte meine Rechenaufgabe zu machen. Mein Vater hatte nicht gewünscht, daß ich Latein treibe, was mir bis auf den heutigen Tag noch leid ist. Schablonenmäßig war der Unterricht nicht und unpädagogisch wenig an Zeit und Stunde gebunden. Es kam oft vor, daß unser Diener uns um ein Uhr zum Essen nach Hause rief, wenn gerade etwas Besonderes Lehrer und Schüler beschäftigte.

Das Beste an dem Unterrichte war die Anleitung zum Selbstdenken, auf die der Pastor immer hinwies, und seine großen, ernsten Anschauungen über Religion, über die Pflichten, über die ganze Auffassung des Lebens. All die Anschauungen waren groß, fest, und so innerlich gesund: im Glauben wurzelnd, zum Höchsten strebend und doch so schlicht mahnend, bei allem das Höchste immer im Auge zu behalten. Er lehrte dabei nicht allein mit Worten, sondern auch mit Taten. Sein Leben war so schlicht, so selbstlos, so von innerer Frömmigkeit durchdrungen, die ihn still, ganz still die größten Opfer bringen ließ.

Von Natur sehr heftig, hatte er sich so bezähmt, daß er fast lethargisch schien. Weniger angeregte Naturen hätten wohl nicht sehr von seinem Unterrichte profitiert, und auch ich hätte viel, viel mehr lernen können, wenn ich eben strenger angehalten worden wäre. Da ich aber zu Haus unter ziemlich strenger Aufsicht stand, ließ er mir wohl etwas mehr Freiheit, was ich denn auch sehr anerkannte.

Wir trieben die letzten Jahre des Unterrichts zumeist Geschichte und Literatur, auch Naturkunde, doch hatte ich, wie gesagt, sehr wenig Sinn dafür. Ich sah soviel von der Natur, daß sie mich eigentlich ungeduldig machte – es war ja immer dasselbe an Berg und Tal, an Blühen und Grünen. Mein Herz sehnte sich nach anderem, nach allem was die Kunst geschaffen, von dem ich so wenig noch gesehen hatte.

Ich las sehr viel vor in dem Unterricht, und ich bewundere noch heute, wie ruhig der Pastor mein Urteil leitete, meine Begeisterung dämpfte und berichtigte, mich mit eine paar Worten oft nur auf das Verkehrte oder Unrechte in des Dichters Anschauungen aufmerksam machte. „Man muß durch das Schöne allein sich nicht bestechen lasssen, und man kann das Schöne auch da anerkennen, wo man nicht mit den Anschauungen übereinstimmt.“ Das war eine der Haupttendenzen seines Unterrichts. Wenn ich atemlos begeistert oft inne hielt bei irgend einer Lektüre, gepackt von der Schönheit der Sprache oder des Vergleichs, schüttelte er wohl mit dem Kopf und urteilte: „Ei, schön gesagt hat er es, aber was er denkt, ist verkehrt.“

Ganz hingerissen von Schillers poetischer, schwungvoller Ausdrucksweise, die eben die Jugend so begeistert, rief ich einmal aus: „Aber es ist doch unbegreiflich, wie man Goethe und Shakespeare höher stellen kann!“ – „Die Schuld, das du das nicht begreifst, wird wohl nicht an Goethe und Shakespeare liegen,“ sagte er mit einer gewissen Ironie, die ich aber fürchtete, „warte mal ein paar Jahre, dann wirst du sie verstehen lernen.“

Eine andere köstliche Lehre gab er mir einst über die Pflicht. Ich sagte, ich wolle ihn in einer Sache um Rat fragen. „Das ist meist nicht nötig,“ sagte er mit seiner gewohnten Ruhe. „Die Menschen fragen dann um Rat, wenn sie ihre Pflicht gern umgehen möchten. Man weiß zumeist recht klar selbst, was die Pflicht ist, und möchte nur gern etwas hören, was einem daran vorbeihilft.“

Wie oft habe ich das als wahr empfunden im späteren Leben!

Das erwähnte Bücherbrettchen bot in den ersten Jahren des Unterrichts die Versuchung, allerhand zu lesen, von dem ich nicht wußte, ob ich es lesen durfte. Meine Mutter war gar nicht engherzig in der Hinsicht, aber sie forderte große Pflichttreue darin, nicht heimlich zu lesen. Wenn nun aber die Stunde durch ein langatmiges Pfarrkind unterbrochen wurde, das den Pastor halbe Stunden lang in Anspruch nahm, oder wenn ein Versehgang ihn abrief, dann kam die Versuchung. Es war mir nicht verboten worden, die Bücher zu nehmen, aber ich wußte doch, daß es nicht recht sei, es ungefragt zu tun; fragen jedoch mochte ich nicht, denn ich fürchtete die Ablehnung. Schillers Don Carlos war mir in die Hände gefallen, und davon konnte ich nicht lassen; auch das Nibelungenlied las ich so mit dem Gefühl des Unrechts – bis denn endlich der gute Vorsatz siegte, die böse Gelegenheit zu meiden. Das Brettchen verschwand übrigens dann auch aus dem Zimmer.

 

7. Die Gesellschafterinnen.

Als ich dem achtzehnten Geburtstag mich näherte, hörten die Unterrichtsstunden beim Pastor auf. Ich fand die erste Zeit das Leben sehr öde, wenn ich meinen Morgen nicht mehr dort zubrachte. Meine guten Eltern aber hatten während der Jahre, in denen ich den wissenschaftlichen Unterricht von dem Geistlichen erhielt, auch die schönen Künste nicht vergessen. Erst war eine Französin gekommen, später eine Engländerin, und Mama hatte Sorge getragen, daß es junge Elemente waren, die mir auch Gesellschaft leisteten, da ich ja sonst stets nur auf mich angewiesen war. Die Französin  hatte leider wenig mit mir anfangen können; sie war erst siebzehn Jahre alt, hatte eine sehr korrekte Pensionsbildung genossen. Ihre Ansprüche an wohlgehaltene Hefte, an sauber geschriebene Aufgaben imponierten mir gar nicht und kamen mir als bei meinem Lehrer ganz unbekannte Anforderungen erbärmlich kleinlich vor. In einem Briefe meiner Mutter an Großmama finde ich die Klage, daß ich „sehr faul, sehr unordentlich und der Mademoiselle gegenüber gar nicht fügsam“ sei, und ich weiß, daß die Klage sehr berechtigt war. Ich hätte da unendlich viel mehr profitieren können, aber siebzehn Jahre haben wenig Autorität über dreizehn Jahre. Was ich von korrektem Französisch weiß, weiß ich von meiner Mutter, die Jahre vorher uns Grammatik und Orthographie durch Diktate beibrachte und trefflich unterrichtete. Mein Bruder behauptete später immer, nur Mamas festes Einpauken der Partizipienregel habe ihm im Examen durchgeholfen.

Nach der Französin kam eine Engländerin, der später noch eine andere folgte. Beide waren mir viel sympathischer als die Französin, und besonders die letztere ward mir eine sehr liebe Freundin. Ihre Frömmigkeit und für die äußere Bildung ihr ladylikes  Wesen imponierten mir sehr. Ihr Vorwurf, daß ich ja eigentlich mehr die Allüren eines Knaben habe, als einer jungen Dame, traf mich doch tief und ich suchte Besserung zu schaffen, wie es meinen achtzehn Jahren jedenfalls auch besser anstand, obschon ich meist für jünger gehalten wurde. Eine andere junge Dame, die mir sehr lieb wurde, war eine junge Musiklehrerin, die oft auf Wochen und Monate des Sommers zu uns ins Haus kam, und dann gab es viel fröhliches Treiben. Sie war ein bescheidenes Bürgerkind aus Kassel – ihre Mutter hatte einen kleinen Wolladen -, sehr talentiert und hatte sich zur Konzertspielerin ausgebildet. Die damals berühmten Männer Kassels: Hofkapellmeister Spohr, Konzertmeister Bott u.a. hatten sich für sie interessiert. Sie hatte in Konzerten schon Trios mit den ersten Größen gespielt, hatte eine bewundernswerte Fertigkeit, doch mangelte es ihr an Tiefe. Immerhin kam sie aus trefflichster Schule, und es war ein Genuß sie zu hören. Sie sang auch etwas und war ebenfalls eine treffliche Zeichnerin. Ich habe noch Kreidezeichnungen von ihr, die durch die Zartheit der Behandlung und Korrektheit der Linien über das gewöhnliche Maß hinausgehen. Sie war zart, sollte Landluft genießen. Wenn sie bei uns auf Welda war, wurden für einige Wochen die Bücher bei Seite geschoben und meist nur Musik betrieben und gezeichnet.

Meine Mama hatte zu Anfang mir gar keinen Musikunterricht wollen angedeihen lassen, weil sie meine Veranlagung als eine sehr mindere erkannte. Eine Freundin von ihr aber hatte mich darin unterrichtet und ich hatte ziemliche Fortschritte gemacht. So spielte ich damals so über nicht, besonders getragene Musik; eine Fertigkeit in den Läufen habe ich aber nie erreicht, und Fingerübungen waren auch nicht meine Kunst.

Der Umgang mit dem jungen, liebenswerten war mir sehr viel. Sie war von überaus großer Heiterkeit, voll der drolligsten Einfälle, und namentlich die Zeichenstunden wurden meist zu viel Unsinn benutzt. Besonders war das Ausdenken theatralischer Vorstellungen, lebender Bilder, mit denen wir die Eltern und das Haus-Publikum überraschen wollten , an der Tagesordnung. O goldene Jugendzeit! Was für unsinnige Pläne förderten wir zu Tage! Wir zwei ganz allein auf unserem großen, ziemlich kahlen Schlafzimmer! Da die kleine Kasselanerin sehr bewandert war in Opern und Schauspielen , die mir bislang ganz fremd gewesen, so waren das ganz neue Bilder, die sie mir vorführte, und ihre lebendigen Erzählungen bereicherten, glaube ich, meine Phantasie mehr, als wenn ich all die Opern und Stücke selbst gesehen hätte. Die Mühen, dann ein Theater aufzurichten, die Überredungen, damit die Brüder mitwirkten, und deren Gleichgültigkeit, wenn wir vor Begeisterung brannten, es möglichst großartig herzurichten, die wunderbaren Kostüme, die wir ersannen! Meine Eltern hatten aber das Rechte getroffen, mir eine so jugendliche Gefährtin zu geben, da ich in jenen Jahren doch viel auf mich angewiesen war. Sie war dabei ein so liebenswerter Charakter, meine „kleine Bachstelze“, wie ich sie so gern nannte ihrer zarten Gestalt, ihres hüpfenden Ganges wegen,  indessen sie mir einiger verunglückten Gedichte wegen den Namen „Schwarzamsel“ gab. Jahre hindurch korrespondierten wir unter diesen Namen.

In religiöser Beziehung hatte sie eigentlich gar keine Anschauungen; sie war wie ein unbeschriebenes Blatt, auf dem nur ein paar Grundlagen christlicher Auffassung standen.

Wenn zwar unklar, hatte sie doch ein edles Streben, und auch viel ernste, tiefe Gedanken tauchten allzeit in dem kleinen blonden Lockenkopf auf. Dabei war sei rein und wahr, und selbstlos wie wenige. Ihrer Mutter und ihrem einzigen sehr undankbaren Bruder all ihr Erworbenes opfernd, gab sie das schönste Beispiel kindlicher Pflichterfüllung, trotzdem die Mutter fast nur Liebe für den Sohn zeigte.

Auch in politischer Beziehung war sie ein entschiedener Gegensatz zu unseren Anschauungen. Der Mittelstand Kassels war durchweg sehr freisinnig und wir waren doch unangenehm berührt, daß sie einen Kragen mit dem Namen Robert Blum trug! Jedenfalls eine amüsante Verherrlichung des Freiheitshelden. Wir disputierten darüber, die Eltern belächelten es – dann aber störte es und nicht weiter.

Einige ihrer stillen Schwärmereien, denen immer eine musikalische Begeisterung zu Grunde lag, vertraute sie mir damals an; aber das war alles so zart, so unschuldig, so kaum in Worte zu kleiden, daß ich jetzt nur mit wirklicher Rührung daran denken kann.

Ich hörte die Erzählung dieser Herzensergüsse natürlich mit großem Interesse an und schämte mich eigentlich sehr, nicht ebenfalls etwas Selbsterlebtes erzählen zu können, um so mehr, als auch Nummer zwei, die schöne Miß Mary, die direkt aus London kam, mich allmählich in solche Jugendinteressen einweihte.

Miß Mary, die nach meinem siebzehnten Geburtstage zu mir kam, war sehr danach angetan, mich die bodenlose Unbedeutendheit meiner Person fühlen zu lassen. Sie war so schön mit ihrer imponierenden Gestalt, ihren großen dunklen Augen, dem prachtvollen schwarzen Haar, daß stets aller Köpfe sich nach ihr umwandten. Und da große Liebenswürdigkeit und Weltkenntnis dazu  kam, war sie sehr geeignet, ein kleines Mädel, das nichts aufzuweisen hatte als einen lustigen und aufgeweckten Ausdruck, schöne Haare und eine muntere Zunge, in den Schatten zu stellen. Man machte Mama damals aufmerksam darauf, daß es doch eigen sei, gerade „so Jemand schönes“ neben mich zu stellen. Mama aber sagte: „ Sie wird sich immer daran gewöhnen  müssen, übersehen zu werden; es ist also gute Übung.“

Meine gute Mama hatte mich gar nicht erzogen, darauf zu achten. Daß ich nicht hübsch sei, hatte ich oft genug gehört, so daß ich mir längst nichts mehr daraus machte, da ich in dem kleinen Kreis, in dem wir verkehrten, mich doch immer sehr wohlbeachtet gefühlt hatte. Den einzigen Stachel, den ich darüber der Mama gegenüber empfand, war der: Mama bewunderte gern schöne Leute, so ganz besonders ihre Schwestertochter, meine Cousine, die dabei so klug und talentvoll war, viel schöner zeichnete, viel schöner Klavier spielte als ich – ja, auf die war ich doch etwas neidisch.

Eigentlich glaubte ich nur meiner Großmama und meinem Vater zu genügen. Von Großmama hatte ich einmal die Äußerung aufgeschnappt, daß sie sagte: ich würde wohl eben so gut in der Welt gefallen wie meine Cousine, „da ich ein so lustiges Lachen habe“ – o menschliche Eitelkeit! – das Lob hatte mir sehr wohlgetan. Papa aber stellte gar keinen Vergleich an; dem war ich gut gerade so wie ich war, und ob ich in der Welt gefalle oder nicht, das war ihm, glaube ich, ganz gleichgültig. Übrigens nahm mein Äußeres damals gerade keine üble Wandlung; wenigstens fingen sogar meine Brüder an, mir hier und da etwas Befriedigendes in dieser Beziehung zu sagen, und selbst die alten Leute im Dorfe wollten sich darüber wundern, daß noch so viel aus mir geworden wäre. Berauschend waren die Kommentare allerdings nicht, aber ich war auch so ganz zufrieden.

Wenn Großmama oft auf Monate zu Besuch kam, war das stets meine größte Freude. Bei ihr hatte ich die ersten Zeichenstunden genommen; sie hatte mir Nähen, Häkeln und Blumenmachen beigebracht und hatte im Gegensatz zu allen anderen immer erklärt, ich sei gar nicht so ungeschickt, ich sei nur eingeschüchtert. Wenn ich dann auf ihrem Zimmer bei ihr war, bekam ich all die Geschichten der Emigration zu hören, die ich schon früher angeführt habe und über die man ein ganzes Buch schreiben könnte.

Vom sechzehnten Jahre an begann, wie gesagt, meine Neigung zum Dichten sich wieder zu regen. All die rührenden Geschichten, die ich von anderen hörte, hier und da ein Liebestraum, der sich in der Nachbarschaft abspielte, gaben Anregung dazu.

Außer fast alljährlich zu meiner Großmutter und zu Verwandten, wo meist auch die Familie zusammenkam, reisten wir nicht, als eine Zeitlang nach Köln, um für meinen kranken Bruder dort ärztlichen Rat zu suchen.

8. Der nachbarliche Verkehr.

In unserer Nachbarschaft hatten zwei Familien großen Einfluß auf meine Entwicklung: die Besitzer der Güter Rheder und Escheberg. das erstere der reizend gelegene Wohnsitz des Grafen Mengersen, und dann Escheberg, das waldumgebene Gut des Barons von der Malsburg aus Hessen. Mit beiden Familien waren wir im innigsten nachbarlichen Verkehr, und ich habe viele schöne Stunden dort verlebt. Zu Rheder waren vier Töchter, die beiden ältesten ganz in meinem Alter; zu Escheberg waren eine jüngere Tochter und ein Sohn meine Altersgenossen; aber auch die älteren Söhne und Töchter gehörten noch mit in unseren jugendlichen Kreis. Übrigens schied sich Jugend und Alter gesellschaftlich nicht so, wie es jetzt vielfach Sitte ist. Sowohl in Rheder als in Escheberg waren auch die älteren Mitglieder immer mit in unserem Kreis; beim lustigen Spiel, bei Landpartien, beim Tanz, in der Unterhaltung bildeten sie den Mittelpunkt.

In beiden Häusern wurde Kunst und Wissenschaft auf das eifrigste gepflegt; in beiden Häusern verkehrten viele berühmte und anregende Menschen. Escheberg insbesondere war ein echter Poetenwinkel. Da hatten Geibel und Bodenstedt Monate, ja Jahre lang sogar ihre Heimat aufgeschlagen; da war Marschner, der große Komponist, oft wochenlang heimisch. Jeder war willkommen, der in irgend einer Weise sich zum Reich der schönen Künste oder Wissenschaften zählen durfte. Der gastliche Hausherr versammelte sie gern in seinem Waldhaus uns es kam dort vor, daß am Morgen ein Lied gedichtet, am Nachmittag komponiert und am Abend schon gesungen wurde – alles von bedeutenden Künstlern. Als ich erwachsen, war die Blütezeit dieser gastlichen Vereinigungen vorüber; doch herrschte noch immer daselbst nicht nur ein fröhliches Treiben, sondern auch geistvolle Anregung und echte kapriziöse Künstlerstimmung war dort zu finden. In beiden Häusern war der Verkehr daher dem Geist und auch dem Herzen fruchtbar, denn eine ebenso echte wie rechte Freundschaft verband die meisten Familienmitglieder untereinander, nicht allein in frohen Stunden, auch in den Stunden, wo Schmerz oder Sorge den einen oder anderen ergriff. Als der älteste Sohn der Familie von der Malsburg zu München einem tückischen Fieber erlag, hatte ihn mein ältester Bruder sechs Wochen auf das aufopferndste gepflegt.

Allwöchentlich schrieb ich meiner Freundin zu Rheder, und eins meiner ersten Gedichte von damals galt ihr. Wir musizierten zusammen, denn die kleine Kasseler Klavierlehrerin teilte ihre Zeit meist zwischen Welda und Rheder. Die jungen Damen zu Rheder zeichneten  und dichteten fast alle. Ich gab aber damals niemals einen meiner Versuche preis. „Halten Sie es denn für ein Verbrechen, zu dichten?“ fragte mich Graf Mengersen einst, als ich eben die Zumutung zurückwies. Nicht einmal meine Brüder bekamen damals etwas davon zu sehen.

Einige Dichtungen las ich nur hier und da so als Probe jener Frl. Hoffmann aus Kassel vor; wenn sie aber etwas sentimentalen Zuschnitt hatten, nur unserer alten Henriette, der schon erwähnten Kammerjungfer von Mama. Als ich einmal eines, rührend „Erste Liebe“ betitelt, ihr vorlas, ein anderes auf  Plattdeutsch von einem „armen Jungen, dem ich mein Herz gegeben“, ihr vordeklamierte, sagte sie ganz ängstlich: „Aber Gnä Fräulein, so was denken Sie doch nicht!“ – sie schien einen ganzen Roman zu wittern.

„Aber, Hennah“ (wir Kinder nannten sie allzeit so), sagte ich sehr empört, „was man so dichtet, das ist man doch nicht selbst! Das denkt man sich so aus!“ Meine sichtliche Empörung beruhigte sie denn auch vollständig. Es war überdies auch nirgends „ein armer Junge“ in Sicht, dem ich möglicherweise mein Herz hätte schenken können.

Natürlich, „wo alles liebt, kann Karl allein nicht hassen“, und in dem engen Kreis unserer Bekanntschaften spielten liebende Herzen und verliebte junge Herren und Damen auch ihre Rollen, und je jünger wir waren, um so wichtiger erschien es uns. Auch ich hatte endlich meine Träumerei – aber darüber dichtete ich nicht, und da wahrheitsgemäß auch nicht die leiseste Veranlassung zu einem Roman vorlag, war es wie das Spiel mit einer Seifenblase, eine harmlose Fiktion, von der ich heute noch sagen kann: ich hatte gerade keinen schlechten Geschmack gehabt. Ein rührendes Gedicht über das Wort „Allein“, was nur in seiner Bedeutung von „allein lieben“ schmerzlich sei, knüpfte gar nicht mal an das Gefühl an und war schon lange vorher entstanden. Das Gedicht „Es war ein Traum“[3] hat man vielfach einer herben Herzenserfahrung zugeschrieben; es hat nie etwas mit der eigenen Empfindung zu tun gehabt. Eine Freundin hatte eine bitterschwere Enttäuschung durchzumachen. Ich hatte sie glückstrahlend gesehen und sah dann ihren unsäglich tiefen Schmerz: dem Ereignis entsprang das Gedicht.

Wenn ich damals nach irgend einer Liebe rang und mich einsam und schmerzliche berührt fühlte dadurch, daß ich wähnte, sie fehle mir, dann war es nach der Liebe meiner Mutter. Ob es Einbildung oder Wirklichkeit war, kann ich heute nicht sagen, aber ich fühlte mich dem Herzen meiner Mutter fern, ich fühlte, daß ich ihr nicht genügte. Ich war eifersüchtig auf meine Brüder, meine Cousinen, auf alle, die Mama gefielen, und bildete mir ein, ihr nichts recht machen zu können. Seltsamerweise fand auch meine Mutter, daß ich mich leichter anderen anschlösse als ihr. Das Ringen nach meiner Mutter Befriedigung zog sich schmerzlich durch all mein Fühlen und Denken. Wie alle jungen Leute phantasierte ich gern vom Tod und von Leiden, deren manche ich auch wirklich empfand. Mein gesunder Sinn ließ sich aber nicht unterkriegen; ich legte allmählich all das Weh in meine Gedichte nieder, setzte aber weise als Vorrede hinzu, „daß alle in Gedichten wiedergegebenen Gefühle wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen aufzufassen seien. Solch gesteigerte Empfindung sei dem Dichter eigen, auch wenn er noch so wahrhaft sein wolle; die Reden der Menschen seien umgekehrt ein Verkleinerungsglas, man empfinde immer mehr als man sage.“

So erklärte ich es mir selbst, daß meine muntern Worte so wenig im Einklang ständen mit den Dichtungen, die zumeist einen traurigen Charakter trugen.

Im Grunde waren wir alle eine muntere, lebhafte Gesellschaft und wenn wir unter uns waren, war immer die lebhafteste Unterhaltung im Gang. Die Brüder, die bald von hier, bald von da bei uns einkehrten, brachten allerhand Stoff mit. Mein ältester Bruder, der auf der Universität den Zirkus Renz in seinem Glanze gesehen hatte, erzählte viel davon während der langen Winterabende, die ich still mit den Eltern und ihm auf dem Gute verlebte. Ich bekam nicht viel von der Außenwelt zu sehen und zu hören. Was ich aber hörte, fiel auf guten Boden und wurde von der Phantasie eifrigst verarbeitet. So entstand die Idee zum Roman „Die Tochter des Kunstreiters“, die sich mit der Erinnerung an eine von der Welt sehr gefeierte Verwandte, die ins Kloster ging, verschmolz und zur Geschichte wurde.

9. Stillleben auf Welda.

            Ganz im Stillen versuchte  ich mich  damals in hunderterlei: ein Schauspiel, ein Epos, verschiedene Romane und Novellen – alles wurde begonnen. Ich wurde aber nicht Herr des Stoffes, glaubte auch, das müsse alles so leicht wie ein Brief aus der Feder fließen. Es wollte nichts fertig werden und ich griff dann immer auf die Dichtung zurück, worin mir doch einiges gelang. Zeit hatte ich ja, meiner Phantasie obzuliegen. Der Haushalt, von Mama fest und sicher geführt, ging bei unseren wohlgeschulten alten Leuten ruhig und anstandslos weiter. Als Adjutant galoppierte ich wohl neben Mama her, rasselte mit den Schlüsseln und hatte eine große Neigung, sie zu verlegen und zu verlieren, führte auch das Zepter, wenn Mama nicht da war, hatte tatsächlich aber sehr viel Zeit für mich. Ich las viel. Mama war gar nicht engherzig darin, las auch viel mit mir, fand aber bald heraus, daß das Lesen keine Gefahr für mich barg. Ich war gewöhnt worden, den Kern der Sache fest ins Auge zu fassen und mich nicht leicht blenden zu lassen.

Zwei Bücher machten damals großen  Eindruck auf mich: ein alter französischer Roman: Mathilde von Madame Collin, und dann: My Novel von Bulwer.In dem letzteren lebte ich einen ganzen langen einsamen Winter. Die Charakterzeichnungen waren so fein, so wahr, der ganze Geist des Buches so ernst, so gesund. Auch heute habe ich noch dasselbe Urteil über das Buch.

Dazwischen hatte ich bald die Liebhaberei, viel zu zeichnen, bald zu musizieren, beides mit wenig Erfolg. Mit Handarbeiten plagte meine gute Mama mich wenig, hier und da aber freuten auch die mich und ich lernte mancherlei Arbeiten ausführen; nur alles, was Schneiderei und Putzmacherei anging, erfüllte mich mit Schrecken und Abscheu; mein Ungeschick lag dabei gar so sehr zu Tage.

Eine große Aufgabe des täglichen Lebens war und blieb die Pflege und Unterhaltung meines armen stummen Bruders. Ihn zu beschäftigen, mit ihm zu spielen, ihm vorzulesen, ihn zu beruhigen, wenn er aufgeregt, ihn zu amüsieren, wenn er traurig – das war eine große Aufgabe. Stundenlang hatte man bald dies, bald jenes zu ersinnen, was ihn freute. Vorlesen und erzählen hören aber war das, was er am meisten liebte, und er war stets rührend dankbar dafür. Wenn er kam, mußte alles andere stehen und liegen bleiben, damit er nur nicht aufgeregt oder gar zornig wurde. Da er nur durch Zeichen reden konnte, war es oft schwer zu verstehen, was er wollte, und dieses Nichtverstandenwerden reizte ihn dann zur Heftigkeit, die er nachträglich stets sehr bereute. Diese Heftigkeit ausgenommen, war er ein leicht lenkbarer, tief-empfindener, selbstloser Charakter, der gern anderen eine Freude bereitete. Alle Brüder waren sehr gut mit dem armen Kranken, unterhielten sich stets auf das freundlichste mit ihm und er ging immer gern auch auf einen Spaß ein. Fast jeden Abend übernahm ich einen Weile die Rolle des Erzählers; dann schlang sich sein Arm so fest um mich, dann glänzten seine Augen und er nahm mir fast das Wort von den Lippen. Kam etwas, was ihn besonders interessierte, dann sprang er auf und rannte eine paarmal im Zimmer auf und nieder; mißfiel ihm die Geschichte, so hielt er mir den Mund oder sich die Ohren zu. Wie oft hat es mir damals ein Zeitverlust gedünkt, wenn ich mich, so lieb ich ihn hatte, so lange mit ihm beschäftigen mußte – und doch war grade dieses Erzählen die beste Übung, die es für mich geben konnte. Ich lernte dadurch, wie man den Zuhörer oder Leser spannen müsse. Wurde die Geschichte langweilig, dann war er nicht zu halten.

Zwei Freundinnen übten in jenen Jahren großen Einfluß auf mich aus: die eine durch die große Liebenswürdigkeit, mit der sie mich stets anzog, sich mit mir unterhielt, mich auf mein Schaffen hinwies und mir Mut dazu machte, mich tröstete, wenn ich mich nicht zurecht finden konnte. Sie war um mehrere Jahre älter als ich. Aber wenn sie zu mir von sich sprach, kam ich mir immer als die Führende vor. Reich begabt, hatte sie gar keine Willenskraft, irgend etwas zu tun, stets nur Vorsätze – das begriff ich nicht. Ihr Denken und Empfinden war aber fein und richtig und viele schöne Stunden habe ich mit ihr verlebt. Die andere war von einer sehr schneidigen Art, von seltenem Verstande, seltener Geistesschärfe und geistiger Durchbildung, dabei von einer fast erschreckenden Willenskraft. Sie hatte viel mehr, viel systematischer gelernt als ich, hatte eine sprudelnde Unterhaltungsgabe, für alles eine geschickte Hand, einen praktischen Blick und war dazumal von hinreißender Frische. Die kleine, zarte Gestalt, die so rücksichtslos fest auftrat, der mächtige, allzu starke Kopf, der aber eine prachtvolle Stirne zeigte, zwei Augen, die man mit einem Bergquell vergleichen konnte, und ein Mund so klein und so trotzig, so korallenrot und so ausdrucksvoll, wie mir nie wieder ein Mund vorgekommen ist. Hände und Füße waren klein und von seltener Schönheit, der Gesichtsausdruck stets wechselnd. In späteren Jahren, als ihre Selbstliebe zu sehr erstarkt war, verglich sie ihren Kopf gern mit dem Napoleons I. und Bismarcks – es war aber etwas Wahres daran.

Unsere Mütter waren Freundinnen gewesen; sie fanden sich nach langen Jahren wieder und meine Mutter lud die Freundin ein, mit ihrer Tochter auf acht Tage nach Welda zu kommen. Ich erschrak zu Anfang, und sie nicht minder, denn wir hatten gegenseitig gar kein Gefallen gefunden und doch waren wir auf dem Lande ganz aufeinander angewiesen. Aber schon nach dem ersten Tage war das Mißfallen geschwunden, wir lebten uns ineinander ein und es entstand ein Freundschaftsbund, der sich ein Leben hindurch bewährt hat. Ich habe wohl mit niemandem so eifrig korrespondiert, als mit ihr; ihre Briefe waren wahre Kompendien von Geist und Wissen, klar, scharf und schneidig.

Ihre knappe, feste Weise flößte mir allmählich mehr Selbstvertrauen ein. Eine gewisse Zaghaftigkeit hatte mich lange gefangen gehalten: ich war weitschweifig und unsicher im Ausdruck, im Urteilen und Handeln gewesen. Ihre Kritik war die schärfste, die man sich denken konnte, oft vernichtend; dennoch spornte mich niemand mehr zum Schaffen an, als sie. „Rolle die ganze Geschichte zusammen und wirf sie ins Feuer!“ sagte sie entschieden, als ich ihr einmal ein Kapitel aus der Tochter des Kunstreiters vorlas, die ich damals bis etwa zum dritten Kapitel gebracht hatte. Ich tat das freilich nicht – aber ich verstand, was sie daran tadelte. Ich merkte, daß ich viel zu subjektiv, zu kleinmalend gewesen, und lernte in größeren, kräftigen Zügen arbeiten. Trotzdem sie so scharf kritisierte und mit solch fabelhafter Schnelle dachte und schrieb, trotzdem ihr Stil so prägnant war, konnte sie selbst nicht das kleinste Lebensbild wiedergeben. Sie war eine rezeptive, aber keine schaffende Natur auf dem Geistesgebiet, doch sehr organisatorisch im praktischen Leben. Das Gefühl, ihr im Schaffen über zu sein, ließ mich ihre Kritik allzeit mit Ruhe hinnehmen. Doch viel, sehr viel verdanke ich ihr.

Bei ihrer großen Begabung war sie sich leider über die leitenden Grundzüge des Lebens nicht klar. Der auf sich beruhende Gedanke, alles aus eigener Kraft zu können, war der Grundzug ihres Charakters; daran scheiterte ihr klarer Blick, ihre Vernunft und ihre ganze Lebensführung.

Und doch, wie viel Schönes wohnte in ihr, wie viel echte Güte, echte Freundschaft, echte Barmherzigkeit! Es gab Zeiten, wo man hoffen konnte, daß sie sich in das Glaubensschiff retten würde, aber sie vermochte nicht das Aufsichselbstberuhen aufzugeben.

Ich habe im Roman Daniella einen ihr ähnlichen Charakter gezeichnet, nicht ahnend damals, daß ihr Schicksal demselben gleichen würde.

So wirkte auch im beschränkten Leben vieles sehr anregend auf mich ein.

10. Berührungen mit der Außenwelt.

Das Jahr 1866.

Die Winter der Jahre 1858 und 1859 hatte ich in der Stadt zugebracht und städtische und gesellige Freuden dort kennen gelernt.

Es war im Frankenland, im schönen Würzburg, wo eine Freundin meiner Mutter lebte, die es für gut fand, daß ich auch etwas Welt in der Art kennen lernte. Ich fand mich ganz gut in der fremden Gesellschaft zurecht; neue Anregungen des Geistes, auch einige des Herzens traten heran und gaben auch der Phantasie neue Nahrung.

Meine Gedichte waren allmählich besser und etwas mehr Gemeingut geworden. Meine Brüder hatten sie zur Beurteilung anderen mitgeteilt; ich selbst feilte und arbeitete auch immer mehr daran. Im Jahre 1864, zur Zeit des dänischen Krieges, hatte ich einige derselben veröffentlicht und sie waren freundlich aufgenommen worden. Meinen Namen hatte ich nicht beigefügt.

Im genannten Jahre 1864 ging mir endlich auch ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Ich sehnte mich so in die Welt hinaus und legte die Sehnsucht schon oft genug in Gedichten nieder. Meine Eltern konnten mir den Wunsch nicht erfüllen. Aber wieder war es eine liebe Bekannte der Familie, die den glücklichen Gedanken bekam, mich einzuladen zu einer Reise nach Gastein in Tirol. O, die unbeschreibliche Freude, als ich mich wirklich unterwegs fand. Die Städte vor allem mit ihren Kunstgenüssen! Natur hatte ich ja auf dem Lande immer zu Gebote. Zu Gastein hatten wir bald einen interessanten Kreis von Menschen um uns und ich genoß es sehr – ich fühlte mich merklich gehoben. Auch auf der Reise entstanden verschiedene Gedichte, und der Anblick der Alpennatur diente mir ein paar Jahre später zu meiner  Geschichte von Heinrich Findelkind. Dieser Reise waren Jahre schwerer häuslicher Sorgen vorhergegangen, die tiefe Schatten auf das Leben geworfen hatten; umsomehr genoß ich diese Freude.

1866, das unruhevolle Jahr, regte mich noch mehr an, da die Wogen des öffentlichen Lebens so hochgingen und ich meine Anschauungen über die Zeit warm vertrat, so wenig sie oft in meinem Kreise Anklang fanden. Viele meiner besten Freunde dachten ja anders darüber, viele feindeten mich wegen meiner Parteinahme an. Wo es aber galt, mein Vaterland oder meine Kirche zu verteidigen, da habe ich immer am liebsten der Poesie das Wort gelassen.

Ein großer Teil meiner Gedichte sind in jenen Jahren entstanden, wo Ereignis an Ereignis sich drängte.

Pastor Dr. Schulte in Erwitte war von einem meiner Brüder auf meine Gedichte[4] aufmerksam gemacht worden und drang auf Veröffentlichung. Er übernahm die Herausgabe. Dr. Kreusler[5] war so gütig, mir über jedes meiner Gedichte seine Meinung zu sagen, und ich habe mich nach Kräften bestrebt, die Fehler zu verbessern.

Anfangs der siebziger Jahre kamen die Gedichte heraus. Männer wie E. Geibel, Fr. W. Grimme und andere sprachen sich freundlich darüber aus, obschon ich den einen zu katholisch, den anderen zu preußisch gesinnt war. Der letzteren Ansicht waren viele unter meinen Freunden. Mein Grundsatz aber, meinem engeren Vaterland in erster Linie anzugehören, seine Größe, seinen Ruhm vor allem zu wünschen, stand mir nun einmal fest ins Herz geschrieben. Man kann dabei manches Unrecht verurteilen, kann manches beklagen, was geschieht – aber von allen deutschen Staaten gehörte Preußen mein Hauptinteresse, weil es eben das mir von Gott gegebene Vaterland war und weil ich auch seine markige Kraft am höchsten stellte. Österreich hatte einst sich selbst der Oberherrschaft Deutschlands begeben, hatte nur noch Österreich sein wollen. Bei der Zerfahrenheit der damaligen Zeit mochte es nicht anders möglich sein, aber es hatte damit auch jedes Anrecht auf die Oberherrschaft in Deutschland verwirkt. Wollte es dieselbe wieder erringen, dann konnte es nur durch eine mächtige Tat geschehen. Fast ganz Deutschland stand 1866 auf Österreichs Seite – da ward es ein ehrlicher Kampf um das Herrscherrecht und es galt von dem Augenblicke an, wo das Schwert gezogen wurde, nur das Recht des Siegers. Wäre Preußen geschlagen worden, so hätte es auch die Folgen zu tragen gehabt.

Die Zeit bewegte mich, rechte mich an, wie keine andere es je wieder getan hat.

11. Innere Entwicklung.

Wie ich schon sagte, war in diesen Jahren viel an Kummer und Sorgen über uns hereingebrochen. Meine sorglose Jugend schloß in vieler Beziehung mit dem Jahre 1859. Die Eltern, besonders mein Vater, traf es am schwersten und er hat sich nie davon erholt, so schweigend er es trug. Wir zitterten eine Zeitlang für unseren Besitz. Welche Liebe man für einen solchen Fleck Erde empfinden kann, habe ich damals durchlebt. Auch Kummer anderer Art trat noch hinzu, schwerer, bitterer Kummer, Tage, die man vergessen möchte. Mein Vater wurde da im wahrsten Sinne des Wortes alt, und doch ging nur selten eine Klage über seine Lippen.

Inmitten all der Stürme fühlte ich mich selbst aber reifen. Was ich so sehnsüchtig gewünscht, den Eltern etwas zu sein, ging in Erfüllung. Ich war eines Tages ganz erstaunt, zu bemerken, wie ich ihnen wirklich jetzt eine Stütze war und die Lasten und Sorgen tragen half. So fehlte es auch in so trüben Zeiten nicht an Lichtpunkten.

Ich fühlte bedeutend mehr, als in der ersten Jugend, die Vollkraft des Lebens. Alles erschien  mir klarer, das Gefühl des Schaffens und Wirkens machte mich glücklich; ich fühlte mich mehr anerkannt, ich wurde zwangloser und freier in all meinem Tun und Lassen.

In jener Zeit war mein dritter Bruder mit den Arbeiten zu seinem großen Examen beschäftigt. Da er sich dabei sehr angestrengt hatte, kam er nach Haus, dort seine Arbeiten zu vollenden. Er diktierte sie mir und konnte dadurch rascher arbeiten. Es freute mich ungemein, ihm behilflich sein zu können. Vieles auch interessierte mich an der Arbeit selbst. Als wir nach tagelangem Schaffen das letzte Wort unter die Arbeit setzten, huben wandernde Musikanten draußen eine muntere Weise zu spielen an. „Das bedeutet Glück,“ sagte ich. Und fürwahr, es traf ein, denn, wie schon erwähnt, erhielten seine Arbeiten das Prädikat vorzüglich.

Ich war mit den Jahren nun schon an die Grenze der Jugend der Frau angekommen, aber, wie gesagt, eigentlich empfand ich die Jugend erst jetzt in vollem Maße. Ich erinnere mich, in jenen Jahren nie das Gefühl der Müdigkeit empfunden zu haben; überhaupt erlaubte mir meine prächtige Gesundheit ganz meines Körpers zu vergessen – und das ist ein köstlich Gefühl.

Mit den Nerven hatte ich gar nichts zu schaffen. Ich konnte des Abends bis spät in die Nacht hinein oft bei armseligster Beleuchtung sinnen, träumen, schreiben und arbeiten, so viel ich wollte, morgens war ich allzeit doch wieder frisch und munter. Man hat es mir oft scharf getadelt, daß ich die Nachtstunden so ausnutzte, so lange las oder irgend anderes trieb; aber ich habe mir viel köstliche Stunden dadurch erobert, oft im sehr kalten Zimmer zur Winterszeit, so daß ich ganz erfroren zuletzt mein Lager aufsuchte. Ich schlief dann aber um so fester und besser. Manches Gedicht ist in solchen Abendstunden entstanden, die aber immer spät anfingen, denn vor elf Uhr gingen meine Eltern nie zur Ruhe und dann erst begannen die Stunde, die so ganz mir selbst gehörten. Mancher Kampf ist auch da innerlich ausgekämpft, mancher Glücks-traum durchträumt, manch wonniges Gefühl des Schaffens ist mir da zuteil geworden, aber auch manche Träne der Enttäuschung habe ich da geweint.

Wenn aber auch mancher Schmerz kam, – denn er fehlt auch dem glücklichsten Leben nicht – die Bitterkeit, woran das Herz krankt, die wie ein Wurm das innerste Glück zerstört, blieb fern.

Je weiter ich im Leben voranschritt, je mehr gab es mir, so viel mehr als ich erwartet hatte, und es war in jener Zeit, da ich das Lied[6] dichtete:

„ O nein, ich kann nicht so finster es sehn:

Ich liebe das Leben, das Leben ist schön.“

Doch muß ich beifügen, daß nicht viele Damen anfangs der Dreißiger gerade das aus vollem Herzen sagen. O ja, ich liebte damals das Leben viel mehr, als ich es mit achtzehn Jahren geliebt hatte.

Meine Gedichte waren indessen herausgekommen – ein gar bescheidenes Bändchen, aber ich hatte Freude daran, denn es wurde sehr freundlich aufgenommen. Selbst mein guter Vater freute sich darüber, obschon es ihm früher ein schrecklicher Gedanke gewesen wäre, eine schriftstellernde Tochter zu haben.

Wie schon erwähnt, hatte Dr. Kreusler bei der Kritik des Manuskripts der Gedichte mir gegenüber mehrfach die Ansicht ausgesprochen, daß er glaube, ich sei auch zur Prosaerzählung veranlagt. Auf seinen Rat hin versuchte ich es, und zwar mit einer Erzählung für Volk und Jugend, da alle meine Romanversuche im Keime stecken geblieben waren. Ich nahm mir aber gleich vor, möge kommen was da wolle, die Erzählung fertig zu schreiben. Das Stückchen Alpenwelt, das ich gesehen, und eine Chronik in der Danielschen Geographie hatten den Gedanken der Erzählung wach gerufen und ich fing an zu schreiben. Aber wie sauer wurde es mir! Ich hatte bei meinen Studien wenig Aufsätze gemacht, fand meinen Stil holperig, schrieb jeden Satz, bis er eine mir zusagende Gestalt bekam, mindestens viermal, und es griff mich so an, daß ich Kopfschmerz und Übelkeit empfand. Hundertmal wollte ich Feder und Papier wegwerfen, oft traten mir vor Ungeduld über mein Ungeschick die Tränen in die Augen – aber meine Zähigkeit half mir und ich ließ alle meine Gedichte liegen, um hierbei zu bleiben.

Mein Zimmer war übrigens wenig geeignet zur Schriftstellerei. Neben unserem Wohnzimmer gelegen, war es ein Durchgangszimmer, also jeder Störung ausgesetzt. In jenen Jahren, wo mein Vater sein Augenlicht zum Teil eingebüßt hatte, so daß er sein Zimmer oben nur selten aufsuchte, lag ihm mein Zimmer als Aufenthaltsort am bequemsten. Jeden Morgen gegen zehn Uhr kam er dorthin und rauchte seine Pfeife, nahm auch sein zweites Frühstück mit Vorliebe dort ein.

Wie oft habe ich später es wieder herbeigesehnt, seine leisen, vorsichtigen Schritte zu hören und die liebe Stimme, die so rücksichtsvoll jedesmal fragte: „Kind, störe ich auch?… Laß dich nur nicht stören.“ Natürlich lautete stets die Anwort, daß er sehr willkommen sei; aber innerlich brannte es doch oft in mir vor Ungeduld. Denn störend war es immerhin: das leise Geräusch während des Frühstücks, die halblaut geführten Unterhaltungen, wenn Mama aus- und einging, wenn die Dienstboten mit ihren Anliegen kamen – ja, dann flog die Feder ungeduldig zur Seite und das eben Begonnene blieb unvollendet.

Allmählich aber gewöhnte ich mich daran, auch bei Störungen zu arbeiten, und das ist mir später sehr zugute gekommen.

12. Verluste in der Familie.

Die Arbeit erhielt aber eine schmerzliche Unterbrechung. Im Winter des Jahres 1873 starb mein Vater. Er hatte fast die Grenze menschlichen Lebensalters erreicht, war 84 Jahre alt geworden. Dennoch war es uns, besonders mir, ein großer Schmerz und Verlust. Gerade die letzten Jahre hatte ich es so recht empfunden, daß ich ihm viel sein konnte. Sein Geist war klar bis zu seinem Ende, und nur im letzten Jahre machten sich allerlei körperliche Gebrechen geltend, die er aber stets mit unerschütterlicher Geduld ertrug. Er ging noch täglich aus, nahm gern an allem teil und seine liebste Unterhaltung war, wenn man ihm vorlas. Stundenlang habe ich ihm da vorlesen können, und er folgte stets mit großer Teilnahme. „Wenn es dich nicht müde macht,“ sagte er in seiner stets freundlichen Weise, und ich wußte, er hatte am liebsten, wenn ich ihm vorlas.

Bis zuletzt behielt er auch sein treffliches Gedächtnis. Da er das Augenlicht schließlich fast ganz eingebüßt hatte, bat er mich wohl mal, ihm sein Morgen- und Abendgebet vorzulesen, da es ihn etwas verwirre. Wort für Wort sagte er dann die seitenlangen Gebete her, ohne kaum einmal zu stocken.

Mit klarer Erkenntnis, ruhigem Gottvertrauen und festem Glauben ging er auch seinem Ende entgegen. Als er die hl. Sterbesakramente empfing, hatte er es sich nicht nehmen lassen, aufzustehen und auf einem Sessel Platz zu nehmen. Mit fester, ruhiger Stimme gab er selbst die Antworten des Ministranten bei dem heiligen Akt, und er hatte seine Freude daran, daß er sie alle noch wußte, wie er es als Knabe gelernt.

Wie bei allen wirklich guten und edlen Menschen, erkannte man seinen wahren Wert erst recht nach seinem Scheiden. Noch heute erinnern wir Kinder uns gern nicht allein seiner väterlichen Güte, sondern so manchen Ausspruches, der seinen klaren Blick, seine richtige Erkenntnis, sein gutes Urteil auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet beweist. Er war kein Mann der Diskussionen, er ließ gern andere reden und vertrat leider seine Meinung oft nicht mir der nötigen Energie. Männer von viel geringerer Bedeutung hielten sich dann für reifer – er lächelte nur dazu. Seine Ansicht habe ich später fast immer bewährt gefunden.

So war es mir eine große Lücke, als er geschieden war. Ich mußte jedoch meiner Mutter gedenken, die, wenn zwar viel jünger als mein Vater, doch auch an der Altersgrenze stand und stets viel an Pflege und Rücksicht bedurft hatte. In jenen Jahren begreift man des Alters Anforderungen bei anderen noch wenig und empfindet sie leicht als zuviel; jetzt muß ich sagen, daß auch meine Mutter anspruchslos und rücksichtsvoll war.

Unser armer stummer Bruder war meinem Vater im Jahre 1870 schon vorausgegangen. Er hatte die letzten Lebensjahre in einem Kloster der Barmherzigen Brüder zugebracht und hatte sich dort recht wohl befunden. Wir, d.h. meine Mutter und ich, hatten ihn daselbst besucht und ihn für seine Verhältnisse froh und glücklich gefunden. Im Frühjahr hatte er uns besuchen sollen, da machte ein Nervenschlag seinem leidensvollen Leben ein Ende. Stets das Kreuzzeichen wiederholend und mit seinen stummen Zeichen die hl. Sakramente verlangend, war er verschieden. So lieb wir ihn hatten, man konnte ihn kaum betrauern. Die Erde hatte ihm wahrlich nichts wie Schmerz und Elend gebracht; sein frommer Sinn aber hatte sich immer schöner entfaltet und hat ihm gewiß dort oben ein um so größeres Glück bereitet. Eine Erzieherin, die einige Jahre bei ihm war und ihn mit seltenem Verständnis zu behandeln wußte, hatte ihn in seinem sechzehnten Jahre so weit gebracht, daß er zur hl. Kommunion zugelassen worden war. Es war damals unbeschreiblich schön und traurig, wie in unserer Hauskapelle der heilige Akte vor sich ging und er nur mit seinen wenigen Lauten und Gebärden das Glaubensbekenntnis ablegte: eine der rührendsten Szenen, die man sich vorstellen kann.

13. Schriftstellerische Tätigkeit.

Es war mir eine Erleichterung, daß nun, wo die Beschäftigung für den Bruder und den Vater von mir genommen, die geistige Arbeit mir zugefallen war. Sie half mir damals wie auch später über vieles fort.

In dem Sommer nach meines Vaters Tode beendigte ich meine erste Erzählung: Heinrich Findelkind, und sandte das Manuskript an den Kritiker meiner Gedichte, Herrn Dr. Kreusler, zur Beurteilung ein.

Ich entsinne mich noch sehr wohl des Tages, als ich, von einer kleinen Reise zurückgekehrt, das Paket in meinem Zimmer vorfand. Eine Weile betrachtete ich es mit mißtrauischen Blicken: „Wenn er es nun für ganz mißlungen erklärt!“ Ich fühlte, wie mir ein Stück Lebenshoffnung unterging.

Als ich aber klopfenden Herzens, noch ehe ich abgelegt, das Paket öffnete, fand ich seinen Brief, der mir sagte, daß er nichts daran korrigiert habe und daß er mir nur raten  könne, es so irgend einer Zeitung oder Zeitschrift einzusenden.

Ich sandte es zuerst, nur mit den Anfangsbuchstaben meines Namens gezeichnet, an das Westfälische Volksblatt in Paderborn später auch an das Echo der Gegenwart in Aachen. Die kleine Geschichte wurde sehr freundlich aufgenommen und machte mir Mut, nun fortzufahren. Ich habe sie später in den Manzschen Lesekranz gegeben, wo sie aber leider fast ganz untergegangen ist. Es war mir sehr leid, denn ich liebte die kleine Geschichte, die ich damals mit so viel Mühe durchgearbeitet hatte, wie kaum eine zweite.

Nachdem ich so empfunden, daß es mit Mühe und Ausdauer ging, wollte ich auch weiter arbeiten, und mein Ehrgeiz ging dahin, ähnlich wie Lady Fullerton im Englischen, Novellen und Romane zu schaffen, die, ohne in irgend einer Weise lehrhaft zu sein, doch dem katholischen Boden, dem sie entsprungen, auch gerecht würden. Kein Buch ist gänzlich tendenzlos, aber die Tendenz soll jeder poetischen Schöpfung nur entsteigen wie der Duft der Blume. Eine ausschließlich katholische Belletristik aufzubauen, daran dachte wohl niemand; aber in der Belletristik auch dem katholischen Geist, der katholischen Auffassung zu ihrem Recht zu verhelfen, das war ein Gedanke, der immer mehr empfunden wurde.

Frau Maria Lenzen di Sebregondi hatte den Anfang gemacht. Gräfin Hahn-Hahns vornehmer, eleganter Stil, ihre rege Phantasie zeigte sich auch in ihren neuesten Werken, die die nach ihrer Konversion geschrieben, ganz von der Glaubensglut durchdrungen, die sie bewegte. Sie war eine durchaus subjektive Natur, ihre Schöpfungen waren gewissermaßen immer die Geschichte ihres eigenen Ich, das, was sie selbst bewegte. Das war der Reiz ihrer ersten Romane, und zum Teil auch der der meisten. Doch sprach naturgemäß ihre dogmatisierende Stimmung nicht so an, als die freiheitsdurstige ihrer früheren Jahre.

Lady Fullertons Romane dünkten mir in ihrer natürlichen Weise einfacher und ansprechender. Ich hatte viel Englisch gelesen und liebte die englische Literatur überhaupt über alles. Diese ruhige Charakterisierung des Menschen, diese Vorstellungen des wirklichen Lebens, die für mich unendlich mehr echte Poesie enthielten als alle romantischen und phantastischen Erzählungen unserer deutschen Romantiker oder gar der französischen, haben mich durch ihre innere Wahrheit und äußere Einfachheit stets entzückt. Der Roman ist eine Art Spiegelbild unseres Lebens und unserer Zeit, und je mehr man sich und seine Zeit darin erkennt, um so lieber ist er uns.

Im nächsten „Weldaer Heimatblatt“ werden die Memoiren der Ferdinande von Brackel fortgesetzt mit dem Abschnitt „14. Der erste Roman“.

 

Das Heimatblatt von Welda als PDF Datei herunterladen:

Weldaer Heimatblatt Nr. 10 – April 1995

 

[1] Migänchen: im Paderborner Land vielfach gebrauchter Ausdruck für kleine, undeutliche Buchstaben, zumal wenn diese in sonst gut geschriebenen Worten vorkommen.

[2] Später war er lange Jahre Pfarrer in Langenstraßen bei Warstein i.W.

[3] Seite 20 der Buchausgabe, 5.Aufl., Köln 1895

[4] Die erste Auflage erschien 1873 im Verlage der Jungfermannschen Buchhandlung in Paderborn und ging 1880 in den Verlag von J.P.Bachem in Köln über; seitdem die 5. Auflage, 1895.

[5] Dr. Kreusler, Sohn des Arztes Hofrat Dr. Kreusler, war ein in der Literatur sehr bewanderter Herr, der in der fürstlich Waldeckschen Hauptstadt Arolsen lebte. Freiin v. Brackel hat lange mit ihm in Verbindung gestanden und gab viel auf sein Urteil. Über ihre Beziehungen zur genannten Familie äußert sich die Verewigte in einem Briefe vom 17.November 1899 wie folgt:

„Hofrat Dr. Kreusler war ein sehr tüchtiger Arzt und wurde oft als Autorität angerufen. Auch meine Eltern zogen ihn in schlimmen Fällen häufig zu Rate, so auch über meine Wenigkeit in meinen ersten Lebensjahren. Seiner sehr energischen und vernünftigen Behandlung soll ich Leben und Gesundheit verdankt haben. Er sah als alter Herr mich immer voll rührender Befriedigung an, hat aber nicht mehr erlebt, daß etwas mehr aus mir wurde als bloß ein gesundes, lebensfrohes Menschenkind. In der fürstlich-waldeckschen Residenzstadt herrschte in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren ein intensiv geistiges und besonders schöngeistiges Leben, stark vom Freimaurertum angekrankt. Feine künstlerische und belletristische Durchbildung war aber nicht abzuleugnen. Die Söhne und Töchter des Hofrates waren alle, besonders in Sprachen, sehr durchbildet. Die eine der Töchter weilt jetzt noch bei der Königin-Regentin von Holland als Kammerdame und Vertrauensperson; sie korrespondierte schon korrekt in sieben Sprachen, als sie noch sehr jung war.

Einer der Söhne, der älteste, war der humorvolle Dichter des damals Aufsehen machenden gelungenen Gedichtes: „König Wilhelm saß ganz heiter, jüngst zu Ems, dacht´ ja nicht weiter“ usw.

Der jüngere Bruder war ebenfalls Arzt zu Arolsen, ein sehr gescheiter, fein durchbildeter Mann. Ich kannte ihn – als ich ihn zuerst um die Korrektur [der Gedichte] bat – persönlich gar nicht; doch lagen ja die alten Familienbeziehungen vor. Ich wählte ihn grade, weil ich da sicher war, daß weder Tendenz  noch gleiche Anschauung in irgend einer Weise bestehen könnten. Ich wollte sein Urteil hören über Form und Dichtung und poetischen Wert.

Er unterzog sich dessen mit großer Liebenswürdigkeit. Die Balladen – und vielleicht auch ein bißchen die Briefe – machten ihn darauf aufmerksam, daß ich vielleicht auch zu der Prosaerzählung mich eigne, und daß im großen ganzen der Geschmack unserer Zeit mehr zur Prosadichtung als zur Poesie neige. Ich hielt damals Prosadichtung für viel schwerer und wehrte mich – folgte dann aber seinem Rat. Heinrich Findelkind las er noch und schrieb wieder: „Ich habe nichts, gar nichts daran geändert.“ Bald darauf ist er gestorben.

Unter meinen Gedichten fand er, der Protestand, mein Allerheiligen-Gedicht [„Allerheiligen 1867, bei dem ersten Angriff auf Rom“. Gedichte, 5. Auflage, Seite 175] als das mächtigste, schönste und beste – ich finde es auch – aber kein katholischer Kritiker hat das hervorgehoben, keiner hat es ganz erfaßt.“

[6] Seite 62 der „Gedichte“, 5. Auflage.